kantate zum 3. sonntag nach epiphanias
Musik: Jörg Herchet
Text: Jörg Milbradt
Der Text spricht vom Glauben und vom Wunder - aber er setzt bei denen, die ihn sprechen und hören, keinen Glauben und schon gar kein Bekenntnis zu einem bestimmten Glauben und zur Wirksamkeit bestimmter Wunder voraus. Nur eine Bereitschaft will er wecken: die Bereitschaft, sich zu wundern. Wundern kann man sich beispielsweise darüber, daß es Glauben überhaupt gibt. Der zum Lesen bestimmte Text ist offen für vielerlei Weisen des Verstehens, religiöse wie nichtreligiöse. Er sucht so auch der Haltung des Zen zu entsprechen, die auf keiner theologischen oder philosophischen Lehre gründet, sondern sich als Alltagspraxis versteht.
1. Was ist ein Wunder? fragt der Text zunächst. Und er antwortet: der Glaube, der die Berge des Zweifels und der trügerischen Gewißheiten versetzt, die auf der Seele lasten.
2. Welchen Glauben meint der Text? Den Glauben an eine lehrhaft mit Worten zu umschreibende Größe, die Namen tragen mag wie Christus, Allah, Seligkeit, Kommunismus, vollkommenes Glück, Unsterblichkeit oder das Nichts? Nein, der Text spricht nicht vom Glauben, der sich an irgendeines von den vielen Wörtern bindet, sondern ausschließlich von einem Glauben an DAS WORT. - DAS WORT ist durch nichts verbürgt als durch eben diesen Glauben. Die Assoziation an den ersten Vers des Johannesevangeliums - "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort!" - liegt zwar nahe, wird im Text aber nicht expliziert. Erkennen läßt der Text nur dies: DAS WORT - das EINE, das not tut - lebt und wächst im Glauben und drückt sich in ihm aus, läßt sich jedoch mit Worten nicht umgrenzen, denn es klingt in allen Worten, die es zu fassen versuchen, immer nur an.
3. Jedoch verweist der Text - im Sinne des Zen - mit poetischen Bildern auf den Weg, wie dieser Glaube gewonnen werden kann: "auf straßen von sehnsucht und glaube / lenkt die wandrer ein grober knüttel" und "käut die worte wieder und speit sie aus / damit die Bäuche leer werden / für das festmahl".
Angespielt wird damit auf Verfahren, die in bestimmten Schulen des Zen-Buddhismus geübt werden: Der um Erleuchtung Bemühte erhält plötzlich von seinem Meister einen harten Stockschlag, nicht etwa, damit er bestraft, sondern damit er erweckt werde. Er soll aus seinem zielgerichteten Denken und Bestreben, aus der Befangenheit im Ich herausspringen, buchstäblich "mit einem Schlag", im "Nu". In anderen Schulen konzentriert man sich auf die Worte der Lehre, um sie meditativ zu verinnerlichen und dann gänzlich in sich auszulöschen.
Die Entblößung des Geistes, die Entleerung von allen Assoziationen und Emotionen, von rationalem Zweckdenken wie vernünftigen Schematisierungen wird auch im Christentum, ähnlich wie im Zen- Buddhismus, als ein unerläßlicher Reinigungsprozeß angesehen, bevor DAS WORT als Geschenk empfangen werden kann. "Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder,.." (Matthäus 18,3).
4. DAS WORT wird kund in einem Schrei, der kein Wort ist: "Hö". - "Hö" oder, in bestimmten Zen- Schulen, "Ho" oder auch "Khaa" sind, um einen von dem Zen-Gelehrten Shitzuteru Ueda verwendeten Ausdruck aufzugreifen, "Ur-Worte". Als tief aus dem Innersten kommender und sich heftig nach außen entladender Schrei ist ein solches "Ur-Wort" dem Schrei des Neugeborenen zu vergleichen, mit dem es die Ablösung vom Mutterleib vollzieht und sich zugleich im Atemholen mit einer völlig neuen Welt verbindet - ein "Ur-Schrei" nach westlicher Terminologie. Denn ein "Ur- Wort", d. h. ein Wort vor und unter jeglichem Wort, kann in seiner elementaren Kraft nur körperlich, als befreiender Schrei, erfahren werden. Deshalb auch wird in der Kantate das Publikum eingeladen, diese körperliche Erfahrung selbst unmittelbar und aktiv zu erleben. - Zwar war in der christlichen Meditationspraxis ein solcher Ur-Schrei früher nicht üblich, aber es gibt in ihr immerhin Ur-Laute, die eine vergleichbare Erfahrung vermitteln können: das kindliche Lallwort "Abba" (Vater) oder die Kraftvokale "A" und "O" ("Ich bin das A und das O" (Offenbarung 1,8 u.ö.))
5. In die Kantate aufgenommen sind zwei Psalmenverse. Vor weit mehr als 2000 Jahren gedichtet und später von der Kirche in die lateinische Liturgie eingebunden, sind diese Worte nicht zuerst als Lehrtext zu betrachten, sondern als poetisches Zeugnis für die zeitliche Tiefendimension des Christentums und die historische Verwurzelung der Kirche. Der Kerngehalt der hier aufgegriffenen Psalmworte - a l l e Völker werden Gott danken - wird im Evangelienbericht von den Weisen aus dem Morgenland veranschaulicht. Er wird aber auch als Echo im Zen-Buddhismus vernehmlich, dort allerdings ohne das "Bekenntniswort" Gott: "In den Ländern aller Himmelsrichtungen gibt es eine einzige Lehre." (Meister Yunmen Wenyan: Zen-Worte vom Wolkentorberg).
Der lateinische Psalmtext wird von den Musikern gesungen, also nicht vom Publikum. Er steht gewissermaßen als Kontrapunkt den anderen Textstücken gegenüber - auch musikalisch, Denn seine Vertonung hebt sich von den übrigen Teilen der Komposition dadurch ab, daß nur hier drei ganz unterschiedliche Strukturelemente, traditionelle wie nichttraditionelle, miteinander vereint sind: der VIII, Psalmton (transponiert) der kirchlichen Überlieferung, die gerade für fernöstliche Musik charakteristische Pentatonik und eine viertönige Allintervallstruktrur. - Der dazu vom Klavier gespielte und vom Publikum gesungene Ton E ist der Grundton des Obertonspektrums, das in der ganzen Komposition vielfältig gestaltet wird.