elole oder: Über die Kunst, den richtigen Champlève-Sound zu finden1

Wann genau das elole-Klaviertrio zum ersten Mal das Klaviertrio Champlève gespielt hat, daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Es muss zu Beginn der nuller Jahre gewesen sein, vermutlich um 2001 oder 2002. Es war nicht die Uraufführung, die hatte bereits 1994, sieben Jahre vor der Gründung von elole stattgefunden. Hier oder da war das Stück immer mal wieder gespielt worden, meist von adhoc für den Anlass zusammen gestellten Ensembles, die drei oder vier Mal geprobt, eine solide Aufführung bestritten und sich dann wieder getrennt hatten.

Freilich wiegt die Gattungstradition, der man sich mit der Klaviertrio-Besetzung stellt, schwer, auch dann, wenn man sie zu entkleiden und auf eigene Weise umzudeuten versucht. Es war unmöglich, sich von diesem (auch inneren) Überschatten zu befreien. Nicht das Sich-Ablösen von Erinnerungsmustern also machte die Besonderheit dieser Aufgabe aus - diese zu reflektieren und neu zu bedeuten ist ja das vorrangige Geschäft des Komponierens. Nein, es war die Leistungsfähigkeit der Besetzung selbst, das enorme Potential, das sich aus dem Zusammentreten von Violine, Violoncello und Klavier auftat, und das wie von selbst Forderungen zu stellen schien, das die Höhe der Aufgabe definierte. Es war jener Raum des Möglichen, der sich von Takt zu Takt auf stets neue Weise auftat und der auf ganz besondere Weise betastet, erweitert, ausgeleuchtet und umgedeutet werden wollte.

Auch dem fertigen Stück blieb ich zunächst noch mit Skepsis verbunden, als sei dieser Raum noch nicht wirklich betretbar, als würde dieser noch von der Furcht vor der Gattung selbst okkupiert und in sich zurück gehalten. Man schreibt ein Stück, sobald es aber in das reale Leben des Aufgeführt- Werdens hinein tritt, setzt es sein eigenes Leben in Gang. Auch weiß man stets, dass beide Welten, die imaginäre, wie auch die reale, die ein Stück begleiten, mitunter gänzlich unabhängig voneinander existieren können, und dass jede dieser Welten eine ganz eigene Dynamik entwickeln kann. Bis nach den ersten Aufführungen hatte sich meine Vorstellung von dem Werk also erst nach und nach in der realen Welt eingerichtet. Es war o. k. so wie es war. Ich mochte das Stück, fühlte mich ihm nahe, konnte dabei aber stets noch einen Akt der Verweigerung, ein "Sich-Vorenthalten" registrieren, das das Stück mir gegenüber einnahm. Zwar war ich getrieben von einer Idee, einem ganz spezifischen Champlève-Sound. Der reale Klang zeigte dabei aber oft ganz andere Koordinaten auf. Sie nahmen mich auf ihre Weise ein, so nahm ich sie dankbar an.

Es sollte ein "innerer Raum" sein, der sich weniger am Physikalischen bemisst als an der psychischen Valenz. Gleichzeitig aber blieb ich stets auch mit der Tatsache konfrontiert, dass die reale Aufführungspraxis, der Widerstand von Material und Physis, und die imaginäre Welt zwei durchaus verschiedene Dinge sein konnten, und dass jede den ihr eigenen Gesetzen unterworfen blieb. Ein Stück ist, was es ist. Im Akt der Aufführung unterliegt es letztlich den Gegebenheiten der Präsenz und entwickelt ein Eigenleben, unabhängig davon, was eigentlich mit ihm intendiert ist oder war. Es gehört zu den wichtigen Erfahrungen eines Komponisten, dass beide Welten eines Stückes, der reale wie auch der imaginäre Möglichkeitsraum, im Laufe der Zeit stets ihre eigene Wahrheit entfalten, und dass sie so, wie sie sind, nicht selten parallel nebeneinander existieren. Jede Aufführung ist ein neuer Anlass, ihre Wahrheiten zu erforschen, sie anzuerkennen als das, was sie sind, und sie in ihrem So-und-nicht-anders, wie auch immer dies sich gestaltet, zu genießen. Es ist was es ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist ein Teil der einen Wahrheit und ein Teil der anderen. Dies zu beobachten kann mit einer ganz anderen Erfahrung von Schönheit einher gehen.

Von Anfang an war die Arbeit mit elole anders. Die typischen Klippen des Stückes wie Tempoverlust an einschlägigen Stellen, Koordinationsschwierigkeiten bei bestimmten Einsätzen, die Dynamik des Timings etc., die ich von anderen Probenprozessen her kannte - sie alle hatten die Arbeit in anderen Ensembles oftmals dominiert, so dass das Stück nicht selten komplett aus dieser Perspektive aufgesogen worden war. Mit elole habe ich einen anderen Zugang zum Proben erlebt. Wir sprachen nicht über Dinge, die im work in progress, in ihrer Vorläufigkeit also sowieso klar waren. Es war die Investigativität der Triobesetzung selbst, die im Mittelpunkt stand. Die Erforschung des Raumes, der sich aus der geistigen Potenzierung und der Beziehungsfähigkeit der drei Instrumente zueinander aufspannen lässt. Mit einem solchen inneren Fokus vor Augen, der gleichwohl nicht verbalisiert wurde, gestaltete sich schließlich auch der Arbeitsprozess als ein anderer. Dinge waren das, was sie zu diesem Zeitpunkt waren und was sie dabei auch in größtmöglichem Respekt gegenüber den Mitspielern sein durften: steps on the way of being. Von Anfang an durften Fehler gemacht werden, nicht, weil sie irrelevant gewesen wären, sondern weil Fehler den Kontakt zur Sache nochmals auf ganz neue Weise intensivieren konnten. Im Fehler hat sich das Teil nochmals in seiner Beziehung zum Ganzen bespiegelt, es ist darin aufgegangen, um letztlich umso deutlicher auf dieses zurück zu verweisen. Ein Irrtum also beim Intonieren, Zählen oder Sich-Kontextualisieren durfte ganz einfach sein, was es war, nämlich: ein mit besonderer Aufmerksamkeit versehener Kontakt zum Ganzen. Niemand kritisierte den anderen, um zu kritisieren. Nie- Die Interpreten entlasten damit nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen und letztlich auch das Werk selbst. mand hielt sich fest an den Kategorien wie "Richtig" und "Falsch", sondern entlastete damit sich selbst, alle anderen und letztlich auch das Werk. In einem solchen Raum ist das Proben ungemein wachstumsfördernd. Man probiert aus, hört zu, lässt sich fallen, kommentiert über weite Strecken erst mal gar nichts und entlastet auch sich selbst davon, gleich eine fertige Meinung haben zu müssen. Es entwickelt das Bedürfnis, die Dinge erst einmal selbst sprechen zu lassen, bevor sie schon darauf festgelegt sind, dies oder jenes meinen zu müssen oder erfüllen zu wollen. Die Dialektik, die meinem Stück durch die Gattung des Klaviertrios anhaftete, wurde somit schon bald zur Dialektik nicht nur der musikalischen Setzung, sondern auch des Arbeitsprozesses mit elole selbst. Dieser Prozess war Klaviertrio, nicht nur als eine musikalische Form, als ein zufälliges Zusammentreffen dreier in der Dialektik ihrer Gattung geübter Musiker, sondern als ein Zustand der Reflexion.

Bis heute empfinde ich elole noch immer als das Heimatensemble von Champlève, sprich: Als dasjenige Ensemble, bei dem das Stück ganz in sich aufgehoben ist, im tiefsten Innersten also "heimkehrt". Auch ein Stück spürt die Liebe, die ihm entgegen gebracht wird und es wächst in sie hinein und gedeiht. Es ist die langjährige Freundschaft mit Uta-Maria Lempert, Matthias Lorenz und Stefan Eder, das Ausreifen des spezifi schen Champlève-Sounds in diesem Stück, das im Laufe der Jahre zu einer unumstößlichen Qualität geworden ist, auf die sich nicht mehr verzichten lässt. Jener Sound, wie elole ihn an diesem Stück geschaffen hat, ist zum unverrückbaren Bestandteil der Identität dieses Werkes geworden. Als solcher ist er stets auch Teil meiner eigenen Person. Für einen Komponisten schließlich lässt sich das eine vom andern nicht mehr trennen.

Charlotte Seither


Fußnote (Klick auf die Fußnote führt zurück zum Text)

1 Charlotte Seither, Champlève für Violine, Violoncello und Klavier (1994), Bärenreiter BA 7566.