Seitwärts durchs Gestrüpp

10 Jahre elole-Trio - Überlegungen zu einem außergewöhnlichen Ensemble

Ein außergewöhnliches Ensemble? Was, bitte, soll an einem Klaviertrio außergewöhnlich sein? Wenn drei Musiker mit drei verschiedenen Instrumenten aufeinandertreffen, ist die Wahrscheinlichkeit rein stochastisch extrem hoch, dass es sich dabei um Geige, Cello und Klavier handelt. Kaum eine Besetzung dürfte, auf den ersten Blick betrachtet, einfacher zusammenzustellen sein. Man braucht keine gute Bratsche zu suchen, keinen Geiger zu finden, der freiwillig ans zweite Pult geht, muss keinen Bläser integrieren, kein Schlagzeug schleppen, ein Klavier steht sowieso überall, und Literatur gibt es auch genug.

Die Literatur aber ist in Wahrheit über weite Strecken ebenso problematisch wie die Besetzung: der vermeintliche Reichtum entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Ödland mit nur wenigen fruchtbaren Enklaven. Charles Rosen hat in Der klassische Stil das Klaviertrio als bereits in seiner Geburtsstunde "reaktionäre Form" apostrophiert: gleichsam eine Doppelung jenes Typus der klassischen Sonate für Klavier - an erster Stelle! - und ein Streichinstrument, in dem letzteres die Melodie begleiten und ab und zu das Hauptthema nachspielen darf. Die satztechnische Problematik der Streichersonate, wie sie unter den Vorzeichen der Instrumentenbehandlung des späten 18. und des 19. Jahrhunderts fast zwangsläufig entsteht, wird durch die Hinzufügung eines zweiten Streichinstruments kaum gemildert. Entsprechend klingen die meisten traditionellen Werke dieser Gattung wie ein Klavierkonzert ohne Orchester, für das dem Pianisten, der sich vom ersten bis zum letzten Takt unermüdlich mit allen zehn Fingern abarbeitet, zur Dekoration zwei Streicher auf die Bühne mitgegeben sind. Selbst wenn man diese auch hört, sind ihre Stimmen an Vielfalt und Komplexität dem Klaviersatz nicht ansatzweise ebenbürtig. Schon ein schlichtes pizzicato oder sul ponticello ist in einem Schumann- oder Brahms-Trio ein echtes Ereignis, eine längere Pause im Klavierpart wirkt wie eine Sensation. Meist jedoch sägt man sich, bald von Arpeggien umschlungen, bald von Oktaven umtost, mittig durchs romantische Gewühl, dessen scheinbare Üppigkeit sich bei näherem Hinsehen und -Hören so oft als das Immergleiche herausstellt.

Das Klaviertrio scheint in der Kammermusik mithin, was der dunkelblaue Zweireiher mit goldenen Knöpfen in der Mode ist: gediegen und nobel, aber auch hoffnungslos reaktionär. So etwas tragen und hören gönnerhafte Kulturbürger, wenn sie sich ein großartiges Konzerterlebnis leisten wollen - großartig meint hier natürlich auch, wenn nicht gar vor allem: frei von Überraschungen. Während etwa aus der Masse der Streichquartettliteratur die Speerspitzen der Moderne durchaus zahlreich herausragen, fristen Klaviertrios (die Stücke hier ebenso gemeint wie die Ensembles) überwiegend ein Dasein im ewig verlängerten 19. Jahrhundert, pendelnd zwischen Meisterklasse am Genfer See und Kammerkonzert im Stadtpalais. Wie in Rilkes Karussellgedicht rotierten Brahms, Schumann, Beethoven, dazu noch Dvořák und Smetana; dann und wann verirrt sich ein weißer Elefant in Gestalt eines Reger-Trios oder eines gemäßigt-mäßigen Modernen ins Programm.

Wohl gibt es im 20. Jahrhundert einige große Trios, bezeichnenderweise sind es oft erratische Werke wie die von Bernd Alois Zimmermann, Morton Feldman, Nikolaus Brass oder Dmitri Schostakowitsch. Aber ist es nicht signifikant, dass weder die großen Drei der Zweiten Wiener Schule, noch Bartók und Strawinsky, nicht Boulez oder Stockhausen noch Lachenmann oder Nikolaus Huber jemals ein Klaviertrio geschrieben haben? Selbst beim bienenfleißigen Hindemith klafft hier eine Lücke. Hat die Tatsache, dass es zu den weltberühmten Streichquartetten, die sich stark oder überwiegend der Moderne gewidmet haben - Amar, Kolisch, LaSalle, Arditti - auf dem Gebiet des Klaviertrios nie ein Pendant gab, Komponisten davon abgehalten, der Besetzung eine zweite Chance zu geben? Oder wurde nie ein großes Avantgarde-Klaviertrio gegründet, weil es zu wenig wirklich bedeutende Stücke gab, die es hätte spielen können? Das ist wohl eine Henne-und-Ei-Frage. Dabei eröffnet die kompositionstechnische und klangforscherische Entwicklung der letzten Jahrzehnte Perspektiven für die Komposition von Klaviertrios, die einer Entfaltung, wenn nicht "Rettung" dieser unmöglichen Besetzung immens förderlich sind. Der reduzierte, dabei zugleich präzisere und vielfältigere avancierte Klaviersatz, der das Instrument nicht mehr als Akkordfabrik missbraucht und dafür sein Inneres erkundet hat, kann, in Kombination mit avancierter Streichertechnik, spielend jenes Grundproblem des aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Klavierkammermusikklanges überwinden, der immer an mit schweren dunklen Eichenmöbeln auf zentimeterdicken Teppichen zugestellte, düstere wilhelminische Bürgerwohnzimmer erinnert.

Mit anderen Worten: erstaunlicherweise ist das Klaviertrio ein stellenweise unerschlossenes Gebiet, auf dem es noch einiges zu entdecken gibt - nicht zuletzt jene Musik, die noch im Komponisten schlummert und darauf wartet, dass ein experimentierfreudiges, kreatives Dreigestirn sie ans Licht befördert. Dafür sind "die eloles" zuständig und prädestiniert (man gestatte es, diesen Ehrennamen zu verwenden, angelehnt an die gleichsam zu Familiennamen verschmolzenen Bezeichnungen bekannter Kammermusikformationen), und nach dieser vielleicht etwas polemisch überzeichneten Einleitung zum Wesen des Klaviertrios dürfte es schon weniger verwundern, warum dieses Trio als außergewöhnlich anzusehen ist. Ein Klaviertrio zu gründen, das sich nahezu überwiegend auf neueste oder gar noch ungeschriebene Musik kapriziert, in Dresden noch dazu, ist nämlich bei genauerem Hinsehen eine ebenso erfrischende wie abstruse Idee. Trotz des weit hallenden Rufes als "Musikstadt", der sich bisweilen wohl eher auf die schiere Masse der gespielten Musik gründet als auf die innovative Programmatik der Konzerte, und auch nur bedingt auf ein wirklich musikalisch gebildetes und aufgeschlossenes Publikum, ist Dresden eine "Kammermusikstadt" wohl kaum je gewesen. Wann etwa hätte diese Stadt ein international renommiertes Streichquartett aufzuweisen gehabt? Kammermusik ist an diesem Ort eher etwas, was man in seiner Freizeit (das meint unter anderem: nach und neben dem Orchesterdienst) betreibt. Das aber ist nicht Kammermusik in jenem emphatischen Sinne, der überregional ausstrahlende, über Jahrzehnte wirkende Gruppierungen hervorbringt. (Von größeren, gemischten Ensembles ist hier notabene nicht die Rede, das ist ein anderes Thema.)

Das elole-Trio ließe sich also als ein klassischer Fall der Methode bezeichnen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. In Dresden kann man nicht warten, bis etwas geschieht, man muss es geschehen machen. Und faule Kompromisse verbieten sich in dieser Situation erst recht. Entsprechend wählen die drei - wenn ihnen, was aus bekannten Gründen nicht immer der Fall sein kann, die Wahl gelassen wird - ihre Programme: sie spielen die wenigen modernen Klassiker der Gattung wie auch neue, vielversprechende Stücke. Sie spielen zu Recht wie zu Unrecht hoch- oder ungelobte Komponisten, weil sie sich ihr Repertoire nicht auf der Basis von name-dropping zusammenstellen und ihre Meinung lieber selbst bilden, und zwar am liebsten im Laufe langer, intensiver und sicher bisweilen auch kontroverser Probenprozesse. Komponisten sind ihnen keine Fremdkörper, Freaks oder Störenfriede, sondern willkommene Gäste, die mit Respekt betrachtet und ernst genommen werden - was fundierte Kritik keinesfalls ausschließt. Sie warten lieber einmal ein paar Jahre, bis sie sich eines Stückes annehmen, weil sie den richtigen konzeptionellen Rahmen dafür suchen und finden wollen. Sie schonen ihr Publikum so wenig wie sich selbst, setzen den Hörer demselben Risiko aus, das sie auf sich genommen haben. Sie machen sich die Mühe, einen Wettbewerb aus dem Boden zu stampfen, um neue Werke anzuregen, und spielen die Stücke, derer sie sich angenommen haben, wieder und wieder. Dabei lässt sich durchaus die Tendenz erkennen, dass ihnen das Abseitige im Zweifelsfall näher liegt als das schon anderweitig Anerkannte. Das elole-Trio folgt keinen ausgetretenen Pfaden, es schlägt sich lieber seitwärts durchs Gestrüpp. Wie sollte es auch anders sein, wenn sich drei Musiker zusammenfinden, über die man alles mögliche sagen kann, aber sicher nicht, dass sie stromlinienförmig wären? Dabei darf man jedoch nicht an das legendäre, albern zerstrittene Quartett denken, das immer in vier verschiedenen Eisenbahnabteilen reist und im Hotel nicht gemeinsam auf einem Flur übernachten mag. Es scheint vielmehr so, dass bei den eloles die charakterlichen Ecken und Kanten des jeweils einen mit denen der beiden jeweils anderen so ineinanderpassen, dass man, auf der Bühne wie in der Probe, zumindest als Außenstehender immer den Eindruck einer gewissermaßen "gespannten Harmonie" erhält. Etwas Feineres lässt sich über eine Kammermusikformation kaum sagen, denke ich.

Was kann man dem Trio, nun es über die mühseligen Anfangsjahre hinweg ist, Schönes wünschen für die nächste Dekade? Keinesfalls, dass alles so bleiben möge, da würden die drei erbleichen wie Brechts Herr Keuner, als man ihm sagte, er habe sich gar nicht verändert. Wohl aber, dass sie weiter so viel Zeit und Kraft haben, um sie in ihre Proben und Konzerte zu stecken, und sicher auch, dass sie in Zukunft zu weniger idealistischen Konditionen arbeiten müssen. Dieses Trio hat sich nicht mit Anfang Zwanzig in einer berühmten Kammermusikakademie zusammengefunden, um sich baldmöglichst über die üblichen Festivalbühnen schleifen (und dort abschleifen) zu lassen; es sind drei Musiker, die schon mit einer jeweils individuellen Prägung und einer gesunden Portion Eigensinn ausgestattet waren, als sie anfingen, zusammen zu arbeiten. Der Idealismus wird einem Trio wie diesem sicher nicht verlorengehen, wenn sie vernünftig bezahlt werden und hin und wieder die Mittel bekommen, um einen Auftrag zu vergeben. Dafür sollte in einer Stadt wie Dresden ein wenig (mehr) Geld übrig sein. Sodann ist den dreien zu wünschen - im Hinblick darauf gibt es allerdings wenig Grund zur Sorge - dass sich auch weiterhin große, junge, gute und vor allem eigenwillige Komponisten finden, die diesem fähigen und charaktervollen Trio Stücke schreiben, die es herausfordern und anspornen. Und schließlich ein ganz persönlicher Wunsch, eigentlich mehr an als für das Trio, und sicher nach dem eingangs Gesagten halb und halb verwunderlich: zu gerne würde ich einmal hören, wie wohl Beethovens Erzherzog-Trio klingt, wenn es den eloles in die Hände fällt.

Benjamin Schweitzer