Ergänzung von Ergänzungsbedürftigem

Manchmal ist vor allem eine Atmosphäre in Erinnerung …

Dresden im März 2005: Jenes Konzert in der Blauen Fabrik, überfüllt mit enthusiastischen Zuhörern. Ein kalter Frühlingstag, Feuer knackte in einem kleinen Kanonenofen. Während des Applauses wurde Holz nachgeworfen. Wohnzimmerstehlampen verbreiteten rotes und oranges Licht. Die Atmosphäre war gespannt, und knisterte zusammen mit dem Feuer.

Es war dieses unmittelbare Erlebnis des elole-Konzertes, von der Musik dieser großartigen Musiker umgeben zu sein, in dem es kein vorher oder nachher gibt, sondern einfach diesen Moment, die Spielfreude und die unmittelbar darauf reagierende Hörfreude des Publikums, die tiefe und klangschöne Art elolischer Interpretationen (ihre Ergänzung von Ergänzungsbedürftigem).

Oder Dresden 2008: das Konzert "Eigenzeit" im riesa efau.

Ein provozierendes Konzert mit offenen Formen, wie es elole liebt. Nach dem Konzert bildeten sich Gruppen von Zuhörern, die leidenschaftlich oder verstört den Sinn offener Formen für die heutige Zeit debattierten. Daraus ergaben sich Gespräche, die Wochen und Monate später anhielten. Es wurde - wie es öfter geschieht - über die elolischen Konzerte intensiv mit Freunden zu Hause oder im Café, bei Spaziergängen oder Telefonaten diskutiert.

Im November 2008 war es die Frage nach der "Gegenwart". In dem Konzert spielten Zeitabläufe eine große Rolle, die in der alltägliche Erfahrung im Hintergrund verbleiben oder darin gar nicht vorkommen. Das Konzert stellte - schon durch den Kontext der Werke - die Frage nach dem gemeinsamen Feld, das Prozesse mit verschiedenen Eigenzeiten sich teilen. Dies sind kosmologische und zugleich wissenschaftliche Problemstellungen. Es waren Fragen nach der Weltwahrnehmung. Die Beschäftigung mit der Relativitätstheorie war für mich immer wieder sehr spannend. Ich konnte mir aber ihren Inhalt - durch das Lesen von Büchern - nie länger merken, nicht wirklich auffassen.

In der Musik aber konnten bestimmte Verhältnisse erfahren werden, die so eindringlich waren, dass sie mir als intuitives Verständnis in Erinnerung blieben. Verschiedene Bezugspunkte trafen so aufeinander, dass sie in der Wahrnehmung in diesem Moment eine reine Gegenwart verkörperten. Die Gesamtheit des Geschehens erforderte jedoch gerade, dass nicht nur das Zusammenwirken, sondern "gleichzeitig" auch die verschiedenen Formen des Werdens als eigenständige Prozesse, als "Eigenzeiten", verstanden wurden.

Wie aber wird das im Hören eines Konzertes begreifbar? Wie ist es möglich, dass eine andere Wahrnehmung der Welt einsetzt durch das Hören, dass andere Zeiträume berührt werden als jene der etwa zwei Stunden eines Konzertes …, dass also durch das Konzert verschiedene unmittelbare und entfernte Dauern und Größen sich berühren, auch solche, die in den Prozessen des alltäglichen menschlichen Lebens nicht greifbar sind? Wie ist es möglich, dass elole mit seinen Konzerten, dem Interpretieren von Musik (seiner Musik, insofern, als dass es sich diese ganz zu eigen macht) das Denken, die Erfahrung von Welt im Hörer hinterfragt, formt, verändern kann?

Das elole-Klaviertrio fragt ganz bewusst aus einem "fast anarchischen", nichts als selbstverständlich nehmenden, Ausgangspunkt heraus noch einmal neu, welchen Rang Musik hat, welche Kräfte sie in sich trägt, und dem entsprechend, welche Aufgabe im Hinblick auf das gesamte Welten- Gefüge ihr zukommt …

elole widmet sich der Frage, warum zeitgenössische Musik interpretiert werden sollte. Die Musiker antworten selbst mit allem, was sie tun, immer wieder neu darauf. Eine mögliche Antwort des Trios, die sich aus vielfältigen Konzerterlebnissen mit elole ergibt, könnte die folgende sein:

Struktur und Oberfläche

Ein musikalisches Werk ist - gleich einer logischen Funktion - ungesättigt und ergänzungsbedürftig. Eine Komposition ist eine vieldimensionale logische Struktur. Die logische Struktur des musikalischen Werkes repräsentiert viele mögliche Oberflächen. Jede Interpretation ist eine mögliche Oberfläche der logischen Struktur der Musik.

In der Interpretation gelangt die logische Struktur zur Wirkung und berührt, bewegt, umfängt, widerspricht, sickert osmotisch ein, wird durchsichtig, ergreift, lässt nicht los, erhebt. Die Interpretation lässt bestimmte Komponenten der logischen Struktur stärker erscheinen als andere, hebt solche heraus, die in Bezug auf die Epoche von besonderer Kraft sind, die sich mit den Fragen, dem Leben der Interpreten, der Hörer auf besondere Weise verbinden. Interpretation eines musikalischen Werkes ist die Verbindung des Werkes mit der Zeit in der es, und dem Ort an dem es aufgeführt wird. Sie hebt Relationen in dem Werk hervor, die auf das antworten, was in dem betreffenden Kontext von besonderer Bedeutung ist. Das Werk wird durch die Interpretation zur möglichen Antwort; es gelangt zu einer Bedeutung, indem es mit dem in der Welt Beziehungslosen, mit Ergänzungbedürftigem verbunden wird.

Die Interpreten des elole-Klaviertrios sind die, die das Werk ins Verhältnis setzen, sie verbinden durch ihr Spiel, ihre Existenz … und versuchen das in der Welt Unverbindliche - die Abwesenheit der Entsprechungen - in eine Möglichkeit des Verstehens, Durchdringens zu bringen.

Sie zeigen durch ihre Bewegung in der Musik auf den Spiegel der Komplexität unserer Welt, den die Musik logisch strukturell repräsentiert. Sie tragen hinüber, sie betonen, deuten, sie verweisen auf etwas, das in Worten ausgesprochen seine Komplexität verlieren würde, was aber deshalb nicht weniger eindeutig, klar und präzise ist.

Matthias, Uta-Maria und Stefan werfen sich, als in ihrem ganzen Wesen von der Musik durchdrungen, zwischen die Struktur der Musik und die Struktur unseres Lebens und verknüpfen beide. Dabei werden die Strukturen nicht eindimensionaler, sondern sie werden durch die sensiblen und existentiell präzisen Interpretationen vermittelt, leuchten auf, werden einprägsam, berühren.

Es ist so schwierig, über Musik zu sprechen, weil sie wesentlich mehrdimensionaler ist als die Sprache. Unerlässlich um bestimmte Erkenntnisse zu gewinnen, den Konzerten zu lauschen, etwas Außersprachliches, Komplexes, Tiefes zu erfahren, was weiter wirkt und sich, wenn es bestimmte konkrete Punkte der Welt im eigenen Alltag berührt, in konkrete, auch sprachlich formulierbare, Gedanken oder Handlungen umsetzt. Aus einer Struktur wird dann nochmals eine Oberfläche, ein In-Erscheinung-treten eines komplexen musikalischen Gefüges, vermittelt durch den Zuhörer, der jetzt selbst der Handelnde ist und der logischen, komplexen Struktur der Musik zur Oberfläche verhilft, so dass sie zu Wirkung gelangt.

Insofern berührt ein Konzert viele potentielle, später sich zeigende Oberflächen. Die logische Struktur der Musik tritt in ihrer komplexen, außersprachlichen Gestalt von Oberfläche zu Oberfläche, wirkt und wirkt, immer auf andere Art, je nachdem, wie sie sich mit dem verbindet, was sie berührt. Und doch auf ihre Art. Denn sie durchdringt das Unbegriffene.

Thuon Burtevitz